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Gestalttherapie und das ihr zugrunde liegende Menschenbild

Der Begriff "Gestalttherapie" wurde in den 50ger Jahren des letzten Jahrhunderts von Fritz Perls geprägt. Perls war damals auf der Suche nach einem Gegenentwurf zu der von Freud begründeten und zu der Zeit sehr populären Psychoanalyse.  In  den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts verbreitete sich die Gestalttherapie von den Vereinigten Staaten ausgehend auch nach Europa. Die Gestalttherapie ist nicht mit gestaltungstherapeutischen Verfahren wie etwa der Kunsttherapie gleichzusetzen. 

Mit der Gestalttherapie sind folgende Begriffe verbunden, die ich Ihnen anschließend im Einzelnen kurz vorstellen werde:

  1. Gestalt
  2. Gewahr-Sein
  3. Beziehung
  4. Kontakt
  5. Prozess

Was das ganze dann mit Ihnen als Patient oder Patientin zu tun haben soll und ob das überhaupt nützlich sein kann, erläutere ich an fiktiven Beispielen aus der Praxis.

1.Begriff:  Gestalt

Betrachten Sie das folgende Bild. Was sehen Sie?

gestaltgestalt

 

 

Sie sehen vermutlich einen Würfel mit weißen Kanten. Teile dieser Karten sind aber genau genommen gar nicht sichtbar, da es sich um weiße Kanten auf weißem Grund handelt. Dennoch "erkennen" Sie einen Würfel. Sie erkennen den Würfel deshalb, weil (a) unser sensorisches Wahrnehmungsssystem so funktioniert, dass es "Lücken" auffüllt und (b) weil Sie den Gegenstand "Würfel" kennen. Wenn Sie noch nie im Leben einen Würfel gesehen hätten, würden Sie auf dem Bild auch keinen Würfel erkennen, sondern lediglich schwarze und weiße Bereiche.

Alternativ zum Würfel könnte es auch sein, dass Sie von weißen Bereichen unterbrochene schwarze "Kreise" erkannt haben. Ihr Wahrnehmungssystem und Ihr Wissem um "schwarze Kreise" vervollständigt die verschiedenen schwarzen und weißen Formen zu einem sinnvollen Bild.

Das erste - und zentralste - Konzept der Gestalttherapie haben Sie soeben kennen gelernt:

Menschen versuchen stets, Einzelelemente und mehrdeutige Wahrnehmungen zu sinnvollen Abbildungen, den "Gestalten" zu verbinden. Die schwarzen und weißen Flächen auf dem Bild ergeben in Ihrer Wahrnehmung die Form eines Würfels - diese "Würfel-Gestalt" entsteht, weil sich ein Vordergrund (die weißen Kanten) vor einem Hintergrund (der diese Gestalt hervorbringt) abhebt. Die "Würfelgestalt" kann jedoch genauso gut wieder im Hintergrund "versinken" und eine andere Form - z. B. schwarze Kreise - kann aus dem Hintergrund hervortreten.

Ein anderes Beispiel aus dem Leben wie wir es alle kennen:

Stellen Sie sich vor, dass Sie sehr beschäftigt sind. Auf Ihrem Schreibtisch liegt so Einiges, was abzuarbeiten, aufzuräumen oder sonst zu erledigen ist und Sie verrichten diese Tätigkeit. Stellen Sie sich weiter vor, dass Sie merken, wie Sie "mal müssen". Aus dem Hintergrund Ihrer Schreibtischarbeit hebt sich eine Gestalt hervor: Volle Blase. Harndrang. Diese Gestalt bleibt so lange unvollständig (und lenkt Sie von Ihrer Arbeit ab) bis Sie auf der Toilette waren und die Blase wieder leer ist. Erst dann ist die Gestalt geschlossen und tritt in den Hintergrund zurück: Ihr Harndrang ist weg und Sie können sich wieder mit ganzer Aufmerksamkeit Ihrem Schreibtisch widmen.

Der harmonische Wechsel von Hintergrund und auftauchenden  "Gestalten" wird vom Organismus angestrebt. Wenn alles ungestört ablaufen kann, dann kann der Organismus immer wieder ins Gleichgewicht (Homöostase) finden.

In der Gestalt-Therapie wird davon ausgegangen, dass bei Menschen jeweils das aktuell wichtigste Bedürfnis als "unvollständige Gestalt" in den Vordergrund rückt. Solange die Figur nicht vervollständigt werden kann (wenn Sie zum Beispiel eine volle Blase aber keine Toilette zur Verfügung haben) bleibt sie im Vordergrund Ihrer Wahrnehmung und kann nicht gut neuen Gedanken oder Erfahrungen Platz machen. 

Man könnte auch sagen: Alles unerledigte, ungeklärte, unverarbeitete schiebt sich beständig als "offene Gestalt" in den Vordergrund der Psyche und "setzt sich irgendwie fest". Manche Patienten schildern, wie nervig oder auch leidvoll sie permanent Grübeln ohne zu einer Lösung zu kommen und wie das Grübeln ihre Lebensqualität beeinträchtigt. 

 

2. Begriff: Gewahr-Sein

Nicht alle Bedürfnisse schieben sich so unmissverständlich in den Vordergrund wie eine volle Blase. 

Auf manche unserer Bedürfnisse achten wir nicht, manche wollen wir nicht wahr-haben,  manche bewerten wir als unbequem, lästig, peinlich oder verboten.  Wir gestatten es ihnen dann nicht, aus dem Hintergrund hervorzutreten, damit sie eine "abgeschlossene Gestalt" werden können und wieder in den Hintergrund zurücktreten können.  

In einer Gestalttherapie können Sie lernen, welche Ihrer Bedürfnisse  noch unerfüllt, ungesehen oder ungewollt sind - also noch keine "abgeschlossene Gestalt" bilden durften und aus diesem Grund an Ihnen nagen, Ihre Energie fressen, Sie traurig oder depressiv machen oder Sie auf andere Weise behindern. Die Entwicklung des Gewahr-Seins (was fühle, denke, will ich) zum gegenwärtigen Zeitpunkt (nämlich "Hier und Jetzt") wird deshalb stets im Blick behalten. Die eigenen Bedürfnisse und Gefühle identifizieren zu können ist Voraussetzung für guten Selbst-Kontakt (und damit psycho-organisches Gleichgewicht, Homöostase) und guten Kontakt zur Umwelt. Zur Umwelt gehören nicht nur andere Menschen, sondern ebenfalls  Bedürfnisse, Aufgaben, Ziele und Pläne.

 

3. Begriff:  Beziehung

Der gestalttherapeutische Ansatz geht davon aus, dass sich in der Beziehung zwischen Klient und Therapeut die Art und Weise abbildet, wie der Klient auch sonst gewöhnlich die Beziehungen zu sich selbst und zu seiner Umwelt gestaltet. 

Die Beziehung zwischen Ihnen und mir, wie sie  zu einem gegebenen Zeitpunkt aktuell im Therapieraum gerade ist , kann Ihnen aus diesem Grund darüber Auskunft geben, welcher Art Ihre sonstigen Beziehungen sind und inwiefern sie jeweils zu Ihrem Leiden oder zu Ihrem Wohlbefinden beitragen können. 

Dazu ein fiktives Beispiel:

Herr Leise macht in der Therapiestunde lauter nette Komplimente. Bewundert die Ausstattung des Therapieraumes. Preist die fachliche Expertise der Therapeutin.  "Also wenn Sie nicht wären, dann wüsste ich ja gar nicht was ich machen sollte. Dann wäre ich ja aufgeschmissen, ja verloren wäre ich dann", so spricht er und schaut dabei mit goßen Augen und geneigtem Kopf zu seinem Gegenüber auf.

Welche Art von Beziehung gestaltet Herr Leise Ihrer Ansicht nach gerade "hier und jetzt" zwischen sich selbst und seiner Therapeutin?

Er gestaltet eine hierarchische Beziehung. Den einen (in diesem Fall die Therapeutin) hebt er auf ein imaginäres Podest, während er sich selbst und seine eigenen Fähigkeiten abwertet. Er unterstreicht das noch "szenisch" durch seine Körperhaltung, in dem er seinen Körper und Kopf so hält, dass er "von unten nach oben" schaut. Indem Herr Leise eine hierarchische Beziehung herstellt (zumindest versucht er es) vermeidet er eine authentische Beziehung zu einem anderen Menschen - denn authentische Beziehungen entstehen nur zwischen Menschen auf gleicher Ebene als Austausch zwischen "Mir und Dir". Nur in einer solchen Beziehung zwischen einem Ich und einem Du entwickeln Menschen ihre Identität. Martin Buber hat das  mit dem Satz ausgedrückt: "Der Mensch wird am Du zum Ich" (Buber, 1923)

Es ist ganz prima, dass Herr Leise heute so deutlich machen kann, wie er Beziehungen (bevorzugt) gestaltet indem er sich selbst abwertet und einen anderen Menschen überhöht. Dieses Beziehungs-Bild, welches Herr Leise klugerweise jetzt im Moment zur Verfügung stellt, kann nun für die gemeinsame Arbeit genutzt werden.

 

4. Begriff: Kontakt

Aus den vorherigen Punkten geht schon hervor, dass Menschen nicht isoliert von ihrer Umwelt verstanden werden können. Genau so, wie der Mensch selbst als untrennbare Einheit von Körper, Geist und Seele angesehen wird, besteht auch eine untrennbare Einheit zwischen dem Menschen und der Umwelt, in der er sich befindet. Der Mensch ist also in einem beständigen "Kontakt" mit seinem inneren Wesen (Gefühle, Bedürfnisse, Vorstellungen, Wünsche, Ansichten, Ziele, Pläne,....) und seiner jeweiligen Umwelt, die aus Personen und Situationen besteht.

Manchmal ist es für einen Menschen zu schwierig oder schmerzhaft, mit sich selbst oder seiner Umwelt in Kontakt zu sein.  Dann versuchen Menschen, aus dem Kontakt heraus zu gehen.  

Dazu ein Beispiel, in das sich jeder und jede von uns wohl ganz gut hinein denken kann:

Beim Einkaufen treffen Sie auf eine gute Bekannte.

"Wie geht´s?" fragt diese. 

Sie machen gerade eine schmerzhafte Scheidung durch, Ihr Kind hat Probleme in der Schule. Außerdem ist ihr Konto überzogen und Sie wissen nicht, ob Ihr Geld noch für den Rest des Monats reichen wird. Seit geraumer Zeit fühlen Sie sich traurig, erschöpft und kraftlos, schlafen schlecht und haben dauernd Magenschmerzen.

"Gut!" antworten Sie. 

Es mag gute Gründe geben, dass Sie sich an dieser Stelle entschieden haben, der Bekannten nichts von Ihrem tatsächlichen Zustand zu erzählen, sondern auf der Ebene der höflichen Begrüßungsfloskel bleiben. Es gibt durchaus Situationen, in denen man damit gut fährt.

Falls Sie sich aber zu keiner Zeit in der Lage fühlen, einem auch noch so vertrauten und nahestehenden Menschen etwas von sich mitzuteilen, das über reine Höflichkeitsfloskeln hinaus geht, dann haben Sie möglicherweise ein Kontakt-Problem.

 

Ein anderes Beispiel:

Frau Freundlich leidet unter "Essentieller Hypertonie". Das ist eine Bluthochdruckerkrankung, bei welcher Ärzte keine zugrunde liegende körperliche Ursache finden können. Der Hausarzt von Frau Freundlich hat ihr eine Psychotherapie empfohlen mit dem Hinweis, dass ihr Bluthochdruck eine seelische Ursache haben könnte. 

Frau Freundlich hat einen anspruchsvollen Beruf, einen fürsorglich-autoritären Ehemann und eine pubertierende Tochter. Sowohl im Beruf als auch in Haushalt und Familie gibt sie stets "ihr Bestes", wie sie sagt. Zusätzlich engagiert sie sich noch in ihrer Kirchengemeinde und leitet einen Lesekreis in der Altenhilfe. Im Schlaf knirscht sie mit den Zähnen. Und wenn ihr einmal etwas tatsächlich oder scheinbar misslingt, dann kann sie sich dadurch völlig aus dem Gleichgewicht geworfen fühlen. 

Wenn jemand sie um eine Gefälligkeit bittet, sagt sie niemals Nein. 

Die Frage danach, was sie selbst sich für ihr Leben wünscht, was ihr gut tut oder Freude machen würde, bringt sie vollkommen aus ihrem (starren) Konzept. Es gelingt ihr nicht, eine Antwort zu finden. Schließlich schiebt sie die Frage mit einer leichten Handbewegung weg: "Ach, ich brauche nichts. Ich bin glücklich, wenn es anderen gut geht."

Frau Freundlich hat auch ein Kontakt-Problem. Sie hat, dadurch dass sie buchstäblich im Einsatz für ihre Arbeit und für andere Menschen "auf geht" womöglich den Kontakt zu sich selbst verloren.

 

5. Begriff: Prozess

Der "Prozess" in der Gestalttherapie ist die Fähigkeit des Menschen, flexibel mit der "Kontaktgrenze" umgehen zu können. 

Im Beispiel von Frau Fröhlich wäre es ein für das Wohlbefinden der Patienten förderlicher "Prozess", wenn es ihr gelänge, nicht ausschließlich im Dienst an Anderen und den eigenen Aufgaben "auf"zugehen, sondern manchmal auch die Grenze schließen zu können und beispielsweise zu Aufforderungen aus der Umwelt Nein zu sagen. Diese Flexibilität hat Frau Freundlich aktuell nicht. Sie kennt nur eine Bewegung, das "Auf"gehen in scheinbar grenzenloser Erfüllung ihrer Pflichten und Aufgaben. Sie kann noch nicht die "Grenze" ihrer Leistungsfähigkeit erkennen um auch für ihr eigenes Wohlbefinden zu sorgen.

Im Idealbild ist die Grenze zwischen einem Menschen und seiner Umwelt "semi-permeabel"; das heißt "halb-durchlässig". Unsere Körperzellen haben zum Beispiel solche semi-permeablen Grenzen. So können alle wichtigen Nährstoffe in die Zelle hineingelangen und Abfallstoffe können aus der Zelle heraustransportiert werden: Die Zelle ist im Kontakt mit ihrer Umwelt bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer Zell-Grenze.

Ein Mensch ist  aus der Sicht der Gestalttherapie eine Einheit oder Ganzheit mit Grenzen zu seiner Umwelt. Wenn ein Mensch seine Grenzen flexibel und angemessen öffnen oder auch wieder schließen kann, dann ist er in gutem "Kontakt" mit sich selbst und der Umwelt - daraus folgt, dass er, wie eine einzelne (Körper-)Zelle mit ihrer semi-permeablen Zellgrenze, lebendig, selbst-bewusst und in diesem Sinn auch  "gesund"  sein kann. 

 

 

 

 

 

 

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